Gedanken eines Biologen zum Jahreswechsel 2022/23

Es ist wieder einmal Zeit ein Resümee zu ziehen und einen Ausblick zu wagen.

 

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat der Bundeskanzler von einer eingeleiteten

Zeitenwende gesprochen. Dabei waren wir im Februar 2022 in einer solchen schon mittendrin. Nichts war mehr wie vorher.

Klimakatastrophe, Verlust der Biodiversität und Coronapandemie deckten weltweit brutal Schwächen

und Versäumnisse auf. Wir befinden uns in einer Zeitenwende - von 5 Minuten vor 12 Uhr bis 5 Minuten

danach - ob wir wollen oder nicht.

 

Die russische Invasion hatte bei dieser Entwicklung - so grausam das auch ist - eher eine Katalysatoren-

Funktion. Katastrophen und Kriege legen Fehlentwicklungen brutal offen.

 

Nachhaltiges Wirtschaften und den Ausstieg aus der fossilen Kohlenstoffwirtschaft hatte die

Weltgemeinschaft in Anbetracht der absehbaren Entwicklung bereits 1992 in Rio und Paris 2015

beschlossen.

Viele haben ab 1992 mit großem Engagement in Lokalen u.a. Agenden daran mitgearbeitet. Leider sind

viele der damaligen Anstrengungen auf lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Ebenen

verpufft. So auch leider in Erftstadt und dem Rhein-Erft-Kreis.

 

Flut 2021

 

Das hat uns im Sommer 2021 mit ganzem Schwung eingeholt. Der Schock durch Personen- und

Sachschäden war groß. Heute - eineinhalb Jahre nach der Flut - sind viele Schäden beseitigt, aber mit

der Ursachenbeseitigung wurde nur sehr zögernd begonnen. Stattdessen ist eine Flutamnesie auf fast

allen Ebenen zu beobachten. Eine Kölner Hochwassermanager hat einmal gesagt: ‚um wirklich etwas

zu bewirken, müsste es alle drei Jahre ein Jahrhunderthochwasser geben.‘

 

Auf der Ebene der Planung diskutiert man immer stärker die Schwammstadt, d.h. Siedlungsbereiche,

die bei Starkregenereignissen Wasser speichern und in Hitze- und Trockenzeiten dieses Wasser zur

Kühlung zur Verfügung stellen. Das Instrument ist vollkommen richtig, aber erstens ist Diskussion noch

lange nicht Umsetzung und zweitens entsteht nur ein Teil des Starkregenabflusses in den Siedlungen.

Gerade bei uns, in der Randlage der Börde wurden seit ungefähr zwei Jahrhunderten Waldstandorte

in Ackerflächen umgewandelt. Staunasse Böden wurden drainiert, damit das Regen-wasser möglichst

schnell abfließt. Die Auswirkungen haben wir von Friesheim bis Blessem erlebt.

 

Wir brauchen neben Schwammstädten auch möglichst schnell wieder Schwammlandschaften!

Vermutlich lassen sich aus Planungs- und Umsetzungsgründen Schwammlandschaften (Wälder und

Moore) schneller realisieren als Schwammstädte.

 

Dazu sind aber für die Land- und Forstwirte attraktive Angebote im Rahmen von Agrarsubventionen

erforderlich. Solange aber über Agrarsubventionen Pflichtleistungen zur Bodenrekultivierung (RWE)

und landwirtschaftliche Freilandforschung (Bayer) hoch gefördert werden, fehlt dieses Geld an der

Klimaschutzfront.

 

Energiekrise

 

Das Abschalten und Sprengen von North Stream I hat unsere einseitige Energieabhängigkeit

offengelegt. Solche Abhängigkeiten gibt es aber auch bei Medikamenten, Solarmodulen und vielen IT-

Artikeln, und auch bei LNG-Gas sind wir auf dem Weg in diese Richtung.

 

Aus der Energiekrise kommen wir nur raus, wenn wir die für uns verfügbaren erneuerbaren Energien

sinnvoll nutzen. Das wissen wir seit über 20 Jahren (Hermann Scheer, Ernst Ulrich von Weizsäcker,

Wuppertal Institut etc.). Anfang des jetzigen Jahrhunderts waren viele euphorisch. Zeitweise wurden

1/3tel der weltweit produzierten Fotovoltaikanlagen in Bayern montiert. Damals gab es in Deutschland

noch weltweit agierende Solaranlagenhersteller. Das hat sich in den letzten 20 Jahren grundlegend

geändert. Solarmodule kommen inzwischen aus China und unsere Windradhersteller (Enercon etc.)

kämpfen ums Überleben.

 

Der Verlust russischen Erdgases hat punktuell zu einer Planungsbeschleunigung geführt. Die Zeiten-

wende hat das ‚LNG-Terminal-Tempo‘ geschaffen, mit dem für sechs Milliarden Euro innerhalb von 10

Monaten in Bremerhaven ein schwimmender Flüssigerdgas-Hafen gebaut wurde.

 

Bei Windrädern, Fotolyse-, Fotovoltaik- und Solarthermieanlagen merkt man allerdings von dieser

Beschleunigung noch nicht allzu viel. Seit 2 Jahren gibt es in Erftstadt einen gültigen Flächen-

nutzungsplan, der auf der Grundlage des NRW-Energieatlas (LANUV NRW) Vorrangflächen für

Windenergie ausgewiesen hat. Es steht noch kein einziges neues Windrad!

 

Ähnliches gilt für die Fotovoltaik, sowohl bei Dach- wie auch bei Freiflächenanlagen. Der Rhein-Erft-

Kreis war der erste Kreis in NRW, der ein Dachflächenkataster im Internet veröffentlich hat, in dem

jeder Hausbesitzer Infos genau zu einer PV-Dachnutzungsmöglichkeit abfragen kann. Seit mehreren

Jahren hört man darüber nichts mehr und auch auf der Internetseite des Kreises muss man länger

danach suchen. So sieht eine lokale, zukunftsfähige Energiepolitik sicherlich nicht aus!

 

Zurück zum LNG: Die kurzfristige Kompensation des russischen Erdgases durch LNG ist nur dann richtig,

wenn parallel dazu -und nicht irgendwann einmal- die Nutzung erneuerbarer Energien massiv nach

vorne getrieben wird. Heute bauen wir mit großem Aufwand viele LNG-Terminals und schließen

weltweit über Jahrzehnte laufende Lieferverträge ab, u.a. auch mit den Arabischen Emiraten und Katar

(war da nicht mal was mit Menschenrechten? – ich glaube in direkten Zusammenhang mit der WM

einer Ballsportart).

 

Parallel dazu tauchen aus den unendlichen Tiefen des geistigen Universums als überwunden gedachte

Techniken wieder auf: Fracking, Atomkraft und Kernfusion

 

Deutschland hat sich bereits vor über 10 Jahren bewusst gegen Fracking entschieden. Unabhängig

davon, dass es eine Fortführung der Nutzung fossiler Kohlenstoffenergien ist, sind vermutlich die zu

erwartenden Schäden nicht kalkulierbar. Mit dem Aufbau einer Fracking-Förderung würde man den

Ausstieg aus der Nutzung fossilen Gases auf Jahrzehnte zementieren. Dagegen spricht auch nicht die

kurzfristige Nutzung amerikanischen Erdgases, das über Fracking gewonnen wird.

 

Wie man in Frankreich sieht, dient ja die Atomkraft - dort gemanagt durch die staatliche Energie-

gesellschaft EDF - gerade nicht zur Sicherstellung einer stabilen Energieversorgung. Die muss zurzeit im

Rahmen der europäischen Verbundnetze nicht zuletzt über deutsche Braunkohlekraftwerke erfolgen.

Mit einem Weiterbetrieb -über den Streckbetrieb hinaus- der AKW’s ist der Neueinkauf von Kern-

brennstoff (vermutlich aus Russland) erforderlich! Trotz aller Versuche ist das Endlagerproblem noch

nicht ansatzweise gelöst. Die Schweiz verfolgt zumindest einen Interessanten Ansatz in direkter Nähe

zur deutschen Grenze. Die weitere Diskussion wird sicherlich spannend.

 

Kernfusion ist eine tolle Sache! In der Sonne funktioniert sie prächtig. Von den Ergebnissen profitieren

wir seit dem Beginn der Erde. Alle unsere fossilen und erneuerbaren Energien gehen auf sie zurück.

Nach den astronomischen Vorhersagen geht das auch noch so, bis ‚kurz‘ vor dem Ende unseres

Planeten. Was soll es nützen, diesen Prozess unter hohem technischem und energetischem Aufwand

auf die Erde zu holen? Ich will damit nichts gegen die wissenschaftliche Erforschung des Prozesses zu

einem besseren Verständnis gesagt haben.

 

Für wie dumm halten eigentlich einige Politiker die Bürger*innen?

 

Was wir brauchen, ist eine schnelle. sinnvolle und flächendeckende Nutzung der uns unentgeltlich zur

Verfügung stehenden erneuerbaren Energien. Nur so können wir uns schnell unabhängig machen von

Öl und Gas aus Russland und anderen diktatorischen Terrorstaaten.

 

Eine Solardachpflicht auf allen Gebäuden kommt, wenn überhaupt, nur sehr verzögert. Eine Firma aus dem Bergischen präsentierte im Herbst Solardachziegel, die sogar vom Bundespräsidialamt für Schloss Bellevue angefragt werden (WDR 31.10.2022). Wo sind hier die staatlichen Fördermillionen, die zurecht bei BIONTEC und anderen Coronaimpfstoffherstellern zügig geflossen sind? Das wäre zukunftsfähige Wirtschaftsförderung!

Permanent wird im Rahmen der Energiekrise darüber geklagt, dass die Stromautobahnen vom Norden

(Offshore-Windenenergie) nach Süden (BMW etc.) nicht schneller fertig werden. Dies ist aber nur die

halbe Wahrheit. Das Grundproblem liegt in einem falschen Denkansatz:

An den Orten des Verbrauchs (Wohnhäuser, Industriebetriebe etc.) muss angesetzt werden.

Energieautarke Wohnhäuser und selbstversorgende Industriebetriebe brauchen Stromnetze ‚nur

noch‘ zum Ausgleich von Unter- oder Überschüssen. Sonne, Erdwärme und Wind stehen ausreichend

zur Verfügung. Die Windanlagenfirma Enercon zeigt in Aurich und Emden, wie man auch in

Industriegebieten Windenergie nutzen kann. Hallen- und Bürohausdächer sind immer genügend

vorhanden.

 

Der Ansatz ‚Verbraucher‘ führt auch gleichzeitig zu individuellen Denk- und Lösungsansätzen bei

Energierückgewinnung und -einsparung.

 

Meiner Meinung nach der größte politische Fehler, der in diesem Rahmen gemacht wurde, ist die

Befreiung energieintensiver Unternehmen von Zahlungen im Rahmen des Erneuerbaren- Energien-

Gesetzes (EEG). Eine Verpflichtung, diese Zahlungen mit Maßnahmen zur Energieeinsprung und dem

Einsatz erneuerbarer Energien zu verrechnen, hätte sicherlich zu einem Innovationsschub geführt.

Vermutlich wären schon damals Stahlwerke auf grünen Wasserstoff aus Windgas umgestellt worden.

Dies müssen wir -nach dem schrecklichen Katalysator Ukraine-Krieg- nun mühsam nachholen.

Die Nutzung erneuerbarer Energien ist, wie jegliche Nutzung, mit Einflüssen auf Natur und Umwelt

verbunden. Wieder ein Ansatzpunkt, um Sand ins Getriebe zu werfen!

 

Aber: ohne erneuerbare Energie stellen Dürren, Überflutungen etc. einen noch größeren Einfluss auf

Natur und Umwelt dar. Wir haben also keine Wahl!

 

Parallel zur Entwicklung der Windenergieanlagen wurden -durch den Druck des Natur- und

Artenschutzes- Techniken entwickelt, die die Einflüsse auf insbesondere die Tierwelt minimieren

(Abschaltalgorithmen bei Fledermausflügen bzw. zum Schutz von Greifvögeln).

Erneuerbare Energie und Natur- und Artenschutz passen zusammen! Wir müssen sie zusammen

denken!

 

Der Ukrainekrieg hat eine neue Flüchtlingswelle ausgelöst. Dabei ist die Flüchtlingswelle, die 2015

begonnen hat, noch immer nicht abgeebbt. Durch die prognostizierten Klimaänderungen wird

vermutlich eine noch größere Völkerwanderung ausgelöst. Darauf müssen wir uns vorbereiten.

 

Zwei große UN-Konferenzen haben das Jahr 2022 geprägt: 
Weltklimakonferenz in Sharm El-Sheikh im November 2022

 

Vermutlich ist sie deutlich hinter den erwarteten Ergebnissen zurückgeblieben. Aber sie hat monetäre

Verantwortlichkeiten aufgezeigt. Leider waren die größten Klimagas emittierenden Staaten (Russland

und China) nicht durch ihre Präsidenten vertreten. Auf der EU-Ebene wurde angeregt, die

klimaschützende Wirkung von Mooren und Wäldern stärker zu berücksichtigen.

Übrigens: am letzten Tag des Jahres 2022 hat das Thermometer in Nörvenich 18,5 Grad gezeigt, das

war in NRW der heißeste Sylvester seit Beginn der Aufzeichnungen.

 

UN-Biodiversitätskonferenz in Montreal im Dezember 2022

 

Man einigte sich auf die Unterschutzstellung von 30 % der Erd- und Meeresfläche Offiziell haben wir

diesen Stand in Deutschland erreicht. Aber nur dadurch, dass wir alle mit öffentlichen Mitteln

durchgeführte Anpflanzungen unter Landschaftsschutz stellen. Die betrifft dann auch das komplette

Straßenbegleitgrün an Autobahnen und anderen Straßen. Hier müssen wir ehrlicher werden und

Natur- und Artenschutz auf geschützten Flächen wirklich ernst nehmen.

 

Vor ein paar Tagen wurde im Umwelt- und Naturparkzentrum die Fortsetzung der von der Familie von

Ley initiierten Aktion ‚1000 Bäume für Erftstadt‘ mit ministerieller Hilfe aus Düsseldorf verkündet. Das

ist der richtige Weg in die richtige Richtung!

 

Kurz vorher ist die Umweltbildungsarbeit im Zentrum durch die erneute BNE-Zertifizierung (Bildung

für nahhaltige Entwicklung) bestätigt worden. Die BNE-Arbeit ist eingebunden in das BNE-

Regionalzentrum des Naturparks Rheinland. Allen Akteuren dafür meine Anerkennung. Leider ist eine

wichtige Akteurin, die ‚Mutter‘ des Waldwichtels, Erika Siebrasse plötzlich verstorben. Sie hat als

Kindergärtnerin, im Haus der kleinen Forscher und mit dem Waldwichtel Kinder für Natur und Umwelt

begeistert. Sie war, ebenso wie auch die in den letzten Jahren verstorbenen Dörte Schlesinger und

Armin Duchatsch, maßgeblich am Aufbau der Bildungsarbeit im Umweltzentrum beteiligt. Wir

behalten sie stets in Erinnerung.

 

Zuletzt noch ein paar Worte zu mir:

 

Ich habe mich -bereits Ende 2021- entschlossen, zukünftig meine Arbeitsschwerpunkte auf zwei

Bereiche zu konzentrieren:
Luchs- und Wolfsberater bei der LANUV NRW

 

Die 2019 gemeinsam mit dem NABU 2019 durchgeführte Veranstaltung ‚Willkommen Wolf‘ hat mir

gezeigt, wie wichtig es ist, das Verständnis und die Akzeptanz für Tierarten, die zu uns zurückkehren

zu fördern. Bei der Wolfsveranstaltung konnte ich am Ende der Podiumsdiskussion zusammen-fassend

schließen: „Der Mensch gehört zwar nicht zum Beutespektrum des Wolfes, aber ab und zu müssen wir

ihn auch daran erinnern.“ Die Probleme, die mit einer solchen Rückkehr verbunden sind, müssen klar

angesprochen und auch soweit möglich gelöst werden. Dazu ist vor allem ein realis-tischer Umgang

mit dem Rückkehrer angesagt. Dabei möchte ich gerne mithelfen.

 

Rehkitzrettung

 

Bereits seit mehreren Jahren unterstützt die Kreisjägerschaft Landwirte bei dem Schutz von Reh-kitzen,

Hühnervögeln und Hasen vor dem Ausmähen. Zuerst mit akustischen Hilfsmitteln und seit dem

vergangenen Jahr mit einer Drohne. Dabei geht es auch um Lebensraumschutz. Fast 50% unseres

Bundeslandes werden landwirtschaftlich bewirtschaftet. Wir brauchen Lebensraumschutz auf der

gesamten Fläche. Dazu ist eine starke Allianz zwischen Landwirten und Jägern erforderlich. Da ich in

dieses Projekt seit Beginn der Aktivitäten involviert bin, möchte ich mit dazu beitragen, ein kreisweites

‚Rettungsnetz‘ zu etablieren.

 

Ich wünsche Ihnen/Euch allen ein friedlicheres, innovatives und erfolgreiches 2023. Wir haben es -

allerdings nicht mehr lange- in der Hand, in welche Richtung sich unsere Erde entwickelt.

Gelingt uns -mit dem Wissen, dass wir nur diese eine Erde haben, eine nachhaltige Lebensführung,

oder machen wir unwiederbringlich durch den Beginn des Sterbens unserer Art, den Weg frei aus dem

Anthropozän in eine neue Erdzeitepoche, allerdings dann ohne den Homo sapiens.

 

Aber ein Apfelbäumchen würde ich trotzdem noch pflanzen!

 

Grüße zum Jahresanfang aus Köttingen

Hans-Joachim Kühlborn